»Ohne Schlamm fehlt uns was ...«
Beim Trassentreffen in Deutzen lebt ein Stück DDR fort ohne Ostalgie, wie man hier sagt
Von Tom Strohschneider
Über der Kulturanlage von Deutzen steht die Sonne. Hier, im südlichen Schatten von Leipzig, wo die Orte Thräna, Lehma oder Zetscha heißen und am Abend der Lichtschein der Messestadt rosarot am Himmel steht, schiebt sich Auto um Auto über die holperige Zufahrt. Ein paar Mittvierziger stehen sich, Biergläser in der Hand, die Beine in den Bauch. Was nach einem gewöhnlichen Dorffest aussieht, ist tatsächlich das Echo einer vergangenen Zeit. Für ein paar Tage hat sich in dem kleinen Ort ein Stück DDR-Vergangenheit eingenistet. Und mit ihm die einstigen Protagonisten. Denn eingeladen hat der »Erdgastrasse e.V.«, ein Verein ehemaliger Trassenarbeiter aus der inzwischen ebenfalls ehemaligen DDR.
Genau 20 Jahre ist es her, dass die DDR ihrer Jugendorganisation das »Zentrale Jugendobjekt Erdgastrasse« übergeben hat so nannte man das damals. Bereits im Sommer 1974 hatten sich sieben Staaten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe auf die gemeinsame Zusammenarbeit bei der Erschließung der Erdgaslagerstätte Orenburg und den Bau einer riesigen Pipeline bis zur sowjetischen Westgrenze geeinigt. Die DDR baute an der Riesen-Röhre mit und wurde dafür mit Gas bezahlt. Die Umsetzung des Mammut-Projekts in der an notorischem Arbeitskräftemangel krankenden DDR sollte die FDJ übernehmen und das Trassenfieber begann. Erst die Drushba-Pipeline und später immer wieder neue Bauabschnitte. Tausende meldeten sich freiwillig für den Job »im Ausland«, auch wenn es nur gen Osten ging.
Wolfram Lenk ist einer von ihnen wenigstens mit dem Herzen. Richtig dabei war Lenk nämlich nicht. Nur ein paar Wochen mischte der Informatiker an der Trasse mit, als Student. Aber die »Prägung«, sagt Lenk, hat auch er. Im Verein Erdgastrasse organisiert er heute mit seiner Schwester und deren Mann die Trassentreffen. Die gemeinsame Zeit zwischen Urengoi und Ushgorod hat, glaubt man den einstigen Kollegen, so etwas wie eine riesige Familie hervorgebracht.
Waren es Abenteuerlust oder ein paar Vergünstigungen der Run auf die Trasse war geradezu sprichwörtlich in der DDR. Monteure, Köche, Bauarbeiter, ja sogar Straßenbahnfahrer und Kunstschmiede heuerten bei der Trasse an. Und die Arbeit hatte es in sich: Heiße Sommer, frostige Winter, Millionen von Mücken, die Schufterei und zu Hause war weit weg. Die Bedingungen stellten alle bisherigen Erfahrungen auf eine harte Probe: Das Land, aus dem das Erdgas kommen sollte, hatte kaum Infrastruktur, Material musste oft aus der DDR herangeschafft werden über 3000 Kilometer weit.
Aber Erleichterung darüber, nicht mehr an den fast 1800 Kilometern Pipeline zu werkeln oder Wohnungen und Schulen für die Sowjetunion zu bauen, ist bei den meisten Jahre nach der Rückkehr nicht zu finden. Statt dessen heißt es auf frisch bedruckten T-Shirts: »Ohne Schlamm fehlt uns was...«. Vielleicht auch deshalb, weil viele der »Trasniks« nach der Heimreise vor einem schweren Neuanfang standen und noch immer nicht richtig in der neuen Welt angekommen sind.
Wie Ronald Stolp. Ende der 50er geboren, ließ der gelernte Maler 1986 nicht nur seinen Filmjob sondern auch die DDR hinter sich und zog in Richtung Ural, ins Permer Gebiet. Vier Jahre später kehrte er in ein anderes Land zurück, fuhr Lkw, arbeitete als Maler und hat sich unterdessen in die Lagerwirtschaft umschulen lassen. Früher, sagt er, hatte er ein dickes Konto. Heute hat er nichts. Bis auf die »Familie« und die soll ihm keiner nehmen dürfen.
Warum auch, sagt Stolp und stimmt trotzig den Arbeiterbewegungs-Klassiker »Brüder zur Sonne...« an. Mit Politik habe das alles nichts zu tun. Womit dann? Es ist die gemeinsame Erinnerung und vielleicht ein wenig bittere Erfahrung darüber, jetzt nicht mehr »etwas Besonderes« zu sein. Ein großes »Wir« schwebt über Deutzen. Ein Wir aus der Vergangenheit.
War also man hört es nicht zum ersten Mal »nicht alles schlecht in ›the old GDR‹«? Die eine oder andere Frage kommt da schon, weiß Wolfram Lenk, aber nein, nein, das ist keine Ostalgie, wehrt er ab und lächelt ein wenig. Hinter ihm wird an einem der Verkaufsstände eine riesige Fahne festgezurrt: Ehrenbanner »Beste Jugendbrigade«, eine Auszeichnung der DDR. Und auch die paar schwarz-rot-goldene Fahnen auf dem Zeltplatz tragen das Hammer-Sichel-Ährenkranz-Emblem.
Ostalgie hin oder her ohne DDR-Vokabular kommt man an diesem Wochenende in Deutzen nicht weit. »Minol kennste doch«, fragt Stolp, der während seiner Trassenzeit Tanklaster lenkte. Hinter ihm machen Stichworte wie »Rote Karte«, »Oska« oder »Lackschuhe« die Runde. Es sind vor allem die letzteren, die »Offiziellen« des Trassen-Personals, die an diesem Wochenende fehlen. Von denen, SED-Leute, Kaderverantwortliche oder einfach nur Kombinats-Obere, lässt sich kaum jemand blicken. Es kommen nur die, sagt Lenk, die gern zurückschauen...
...oder heiraten wollen. Ganz im Ernst. Das Trassentreffen wird an diesem Pfingstsamstag zur Bühne für eine Hochzeit, die große, alte »Familie« zum Hintergrund für die Gründung einer neuen. Wie bei so vielen zuvor.
Auch Swetlana Hüttner arbeitete an der Trasse, in Otscher, beim Küchenpersonal. Die zierliche Frau aus der ehemaligen Sowjetunion lernte dort den Mann fürs Leben kennen und heiratete. Er, Busfahrer aus der DDR, nahm die Frau aus dem Permer Gebiet Anfang der 90er Jahre mit ins inzwischen vergrößerte Deutschland. »Nicht leicht« sei es gewesen, sagt Swetlana Hüttner. Sie verließ die Heimat, ihr Mann kam in ein Land zurück, dass seines nicht mehr war. Drückender allerdings waren die Alltagssorgen: Arbeitssuche, neue Umgebung, Mentalitätsprobleme und immer wieder der Blick zurück. Im letzten Jahr besuchten die Hüttners noch einmal Otscher. Die Küche, in der Swetlana Hüttner arbeitete, sei »ein bisschen renoviert« worden. Aber sie steht noch, wie auch die Häuser, in denen einst die Trassenkumpel wohnten. Heute leben dort afghanische Flüchtlinge.
Ganz ähnlich mag es vielen der immerhin fast 15000 Trassenkumpel aus der DDR ergangen sein. Das Gemeinsame einer besonderen Biografie schweißt sprichwörtlich geradezu die Menschen über Differenzen hinweg zusammen. Ob es die »Prägung« auch wirklich gibt und »echte Kameradschaft und Ehrlichkeit«, wie Stolp sagt, nur unter den einstigen Trassenarbeitern existiert, will so ganz genau gar keiner wissen. Ist die »Familie« doch nur ein Mythos, ein im Nachhinein geschnürtes Paket kleinster gemeinsamer Übereinstimmungen, um dem unbekannt gewordenen Zuhause zu begegnen? Womöglich. Mythen indes bedürfen der beständigen Erneuerung. Und so ist das Deutzener Trassentreffen vor allem auch eine Börse der Erinnerungen.
Manch einer derer, die zum inzwischen dritten Trassentreffen angereist sind, steht mit kurzen Hosen, in Unterhemd und Sandalen in der Landschaft, als komme er just aus den russischen Weiten. Hier und dort werden Fotos herumgereicht, wird »von früher« erzählt, stehen sich ungläubig dreinblickende Menschen beim Wiedersehen gegenüber und klopfen sich, fassungslos beinahe, auf die Schultern.
Für Wolfram Lenk und den Verein sind Treffen wie das Deutzener denn auch weit mehr, als bloße Pfingstfeste. Man will auch helfen. So denkt der »Erdgastrasse e.V.« schon seit langem über einen Hilfsfonds für gestrandete Kollegen nach, aber, sagt Lenk, »es schleicht sich so«. Geld für finanzielle Hilfe hat der Verein, in dem ausschließlich ehrenamtliche Arbeit steckt, nicht, und außerdem »will man ja niemanden bevorteilen«. Also beschränkt man sich derweil auf Hilfe zur Selbsthilfe, auf Kontakte und Jobs.
Auf der Webseite des Vereins klicken sich Monat für Monat bis zu 300 einstige Trassenkumpel durch die Kontaktsuche sogar Grüße aus den USA sind dabei. Für Wolfram Lenk ist der Verein aber auch darüber hinaus Brücke zu den »Freunden« wie die UdSSR im allgemeinen wie im besonderen in der DDR genannt wurde. Viele der einstigen Monteure, Fahrer oder Schweißer fahren noch immer ein, zwei Mal im Jahr an ihre Einsatzorte um Bekannte, Land und Leute zu treffen. Irgendwie, sagt Stolp, haben die in der DDR üblichen Aufforderungen zum »Internationalismus« also doch etwas gebracht. Und vielleicht, wirft Lenk hinterher, wird man dort demnächst sogar einen Kindergarten unterstützen. Dann gäbe es 20 Jahre nach der Übergabe des Jugendobjekts Erdgastrasse wieder eine Aufgabe für die nicht mehr ganz jungen Trassenkumpel.
Erdgastrasse etc.
1974 vereinbaren Mitgliedstaaten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) die Kooperation beim Bau einer Erdgasleitung von Orenburg bis zur Westgrenze der UdSSR. Die SED lässt das Vorhaben als Zentrales Jugendobjekt »Drushba-Trasse« durch die FDJ erklären. 1982 werden zwei weitere Abschnitte der FDJ als Jugendobjekt »übergeben«. Ab 1984 begannen die Arbeiten im Permer Gebiet am Ural.
Insgesamt rund 1750 Kilometer Pipeline wurden von Monteuren aus der DDR verlegt. Für rund 100 Kilometer Pipeline mussten etwa 10000 Rohre mit einem Gesamtgewicht von 80000 Tonnen verlegt werden. 19 Verdichterstationen, 16 Schulen und Kindereinrichtungen sowie Hunderte Kilometer befestigte Straßen wurden errichtet. Zudem baute die DDR mehrere Industrieobjekte und über 4500 Wohnungen.
(ND 01.06.02)